
Seit Stunden schon sitzen die beiden im Kaffee und reden. Nora und Judith. Die beiden Frauen haben sich vor Jahren aus den Augen verloren. Die Wege sich getrennt und vor kurzem sind sie sich zufällig in der Stadt wieder über den Weg gelaufen. Und jetzt reden sie eben, als hätten sie sich erst gestern das letzte mal gesehen. Über das, was sie in den vergangenen Jahren alles erlebt haben. All die Mutproben, all die Glücksmomente und auch all die Fallstricke, die das Leben für sie bereit hielt.
Irgendwann streift das Gespräch auch die Aktualität. Nora gerät ins Schwärmen über Selenskyi. Er ginge vorbildlich voran, meinte sie. Zeige den Menschen den Weg. Und er sei, so meint sie, wahrscheinlich auch der Grund, warum hier die Flüchtlinge so gut aufgenommen würden.
Judith runzlet die Stirn. Hält ihre Meinung zurück im Wissen, dass diese Diskussion ein heisses Eisen ist. Sie sieht das anders, das mit Selenskyi. Fügt bloss an: «Das hab ich so noch nie gedacht. Im Gegenzug dazu aber werden andere Flüchtlinge hingehalten und viel schlechter betreut als die Ukrainer. Wie beispielsweise die Menschen aus Afghanistan».
«Die sollen sich erst mal richtig an unsere Gewohnheiten anpassen», enerviert sich Nora. Judith wirft ihr einen fragenden Blick zu. «Eine afghanische Mutter hat eben ihrer Tochter ihre langen Haare abgeschnitten, ohne ihre Einwilligung. Und so jemanden soll man integrieren? Die wollen hier leben? Die hat jetzt ein Verfahren am Hals.» Nora kocht. Sie ist Lehrerin. Das afghanische Mädchen ist in ihrer Klasse.
Nora kocht verständlicherweise. Es ist übergriffig, demütigend, wenn ein Elternteil gegen den eigenen Willen dem Kind die Haare abschneidet. Das Kind wird seiner Würde beraubt. Der eigenen Selbstbestimmung. Das sollte nicht passieren. Ist barbarisch. Das gehört hier nicht hin. In unsere zivilisierte, westliche Gesellschaft. Hier gehen wir anders mit unseren Kindern um und das gehört bestraft. Diese Frau muss sich an hiesige Gepflogenheiten anpassen und sonst gehört sie wieder dort hin wo sie hergekommen ist. Sowas duldet man hier nicht.
Wirklich nicht? Judith sinkt unmerklich in ihrem Stuhl zurück. Nullkomaplötzlich rückt ihr ein Bild aus ihrer eigenen Kindheit vor ihr inneres Auge. Sie in der Badewanne. Vor ihr der Vater. Er hält eine Domdeuse in der Hand, setzt sie an ihren Haaren an. Die brauen, glänzenden Locken fallen reihenweise auf den weissen Wannengrund. Innert kürzester Zeit sieht sie aus wie ein Bub. Sie schämt sich ihrer selbst. In der Nachbarschaft wird sie von nun an nicht mehr Judith genannt, sondern Rudi.
Geschehen in der Schweiz. Ohne anschliessendem Verfahren wegen Körperverletzung. Nach UN-Kinderrechtskonvention.
Aber wir glauben stets, wir sind die Guten.