Strichcodes im Tante Emma-Laden

Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Es war das erste Mal, dass ich mit dem Tod in so direkter Weise konfrontiert wurde. Eine sehr bewegte Zeit. Begleitet von Bangen und Hoffen, auf dass dem geliebten Elternteil vieles erspart bleiben möge. Trotz der anspruchsvollen Phase gab es intensivste und liebevollste Momente. Wohl auch im Bewusstsein, dass das gemeinsame Zusammensein bald ein Ende haben wird. Der Kampf dauerte länger als vorausgeahnt und daraus erwuchs mein höchster Respekt vor diesem Ereignis und auch vor dem Menschsein. Oftmals wenn es sehr belastend wurde ging mir ein tröstlicher Gedanke durch den Kopf. Ein Zitat von Novalis, das mir in dieser Zeit in die Hände geriet.

„Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch. Wenn ein Mensch stirbt, wird er Geist.“

Der Gedanke, dass der Tod einen Übergang darstellen und wie eine umgekehrte Geburt sein könnte, erleichterte mir etwas die Begleitung und das Abschiednehmen. Auch wenn ich wusste, dass er mal kommen würde, überraschte er mich trotzdem. Dieser letzte Atemzug. Und liess mich plötzlich ganz alleine dastehen im Raum. In der absoluten Stille. Ist er wirklich gegangen? Das Antlitz entspannt. Friedlich. Wie wenn er schliefe. Eine unendlich grosse Liebe verströmend. Die Stunden danach verbrachte ich in dieser intimen, endlos erscheinenden Zweisamkeit. Ein inniger Moment mit meinem Vater, obwohl er schon abgeschieden war. In dem ich immer wieder an das Bett trat, um nach ihm zu schauen. Ist da wirklich keine Bewegung mehr? Ist er wirklich schon verstorben? Ganz weg? 

Später brachte man ihn den Aufbahrungsraum. In den nächsten 24 Stunden sollte er schon kremiert werden. Weihnachten stand kurz bevor. Feiertage, an denen das Krematorium nicht arbeitet. Mit aller Kraft stemmte ich mich dagegen, dass dies so schnell passieren sollte. Ich las darüber, dass der Mensch nicht nur aus Fleisch und Blut besteht. Dass er, wenn medizinisch für tot erklärt, Dinge noch wahrnehmen kann. Neben dem physischen auch noch feinstoffliche Leiber besitzt. Der Astralleib oder Seelenleib und der Ätherleib oder Lebenskräfteleib, die drei Tage benötigen, um sich vom physischen Körper zu lösen.

Darum, ging es mir damals durch den Kopf, hat man früher wohl in diesem noch geistigen Wissen die Verstorbenen drei Tage am Totenbett begleitet. Dinge, die heute in unserem materialistischen Dasein völlig verloren gegangen sind, weil man nur noch an das glaubt, was man sieht. Die Vorstellung, mein Vater könnte in irgendeiner Weise noch etwas mitbekommen im Krematorium war für mich unerträglich. Ebenso unerträglich wäre der Gedanke gewesen, man hätte sich kurz nach seinem letzten Atemzug über seinen Leichnam hergemacht und sich seiner Leber, seinem Herz, der Nieren oder Lunge bedient. Wie in einem Tante-Emma-Laden. Fehlten nur noch die Strichcodes an den Organen.

Montagskolumne im Bieler Tagblatt – erschienen am 6. November 2017 und heute – nach der Abstimmung über die Organspende – nichts an Aktualität verloren.


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