Ein Hafen für kreative Weltveränderer

Markus Roos (zvg)

Sie haben sich auf die Flagge geschrieben, ein Hafen für Weltveränderer zu sein. Genau diese Menschen zieht der Coworking-Place Effinger an. Das Haus mitten in der Stadt Bern bietet die Nutzung von Büroflächen durch Freiberufler, digitale Nomaden, unabhängige Kreative sowie Start-ups und grosse Unternehmen. Was bei den meisten innovativen SchafferInnen sehr willkommen ist: die Kaffeebar. Von der Latte Macchiato übers Znüni bis zum schnellen Zmittag ist hier alles zu haben was ein gut funktionierender Geist an Lebenskräften zuführt. Nebst diesen für jedermann offensichtlichen Angeboten für die breite Öffentlichkeit verbirgt sich hinter den Mauern dieses dreistöckigen Gebäudes aber ein ganzes Universum. Vom Untergeschoss des Hauses mit einer Pilzfarm mit Pilzboxen, über ein professionelles Foto- und Filmstudio, das zwei «Effianer» selbständig betreiben bis hin zur obersten Etage, die eben erst dazu kommt. Hier sind Firmenarbeitsplätze, Kreativräume und Platz zur Entspannung geplant.

Ich treffe mich mit Markus Roos. Der 60 jährige Berner ist Bildungsentwickler mit dem Ziel, die Bildungslandschaft Schweiz zu revolutionieren. Er ist Teil des Vereins Effiinger Coworking Community. Einer, der im Effinger Verantwortung mitträgt und in der Funktion als «Effianer» hier am arbeiten ist.

Ihr arbeitet ganz ohne Chef oder leitende Person. Wie wird der Effinger geführt?

Wir sind selbstorganisiert und selbstverantwortlich unterwegs. Darum ist die Verantwortung wie geteilt. Selbstorganisation braucht sehr viel Organisation. Beginnt auf der Metaebene. Das heisst, man hat eine Vision und Mission, eigentlich wie in einem Unternehmen. Zu bedenken oder zu beachten gilt es, dass jeder Mensch seine eigene Geschichte hat, seine eigenen Ziele verfolgt. Und trotzdem brauchen wir eine gemeinsame Basis, um zusammen arbeiten zu können. Als Community haben wir aktuell Grundsätze, die für uns die Basis dazu bilden. Diese sind öffentlich und auf der Website (www.effinger.ch/grundsätze) sichtbar. Jede Person bringt sich entsprechend ein und lebt dies nach eigenem Empfinden. Einer der Grundsätze ist zum Beispiel die Dankbarkeit.

Warum habt ihr Euch für diese Art des Zusammenarbeitens entschieden?

Junge Leute hatten die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft und nicht mehr dem steten Alleine-sein. In der Gemeinschaft erhält der Einzelne neue Impulse, wird von anderen inspiriert und unterstützt. So entstand die Idee mit dem Thema Co-working und Cafe-Bar einen Ort zu schaffen. Sie haben sich andere Leute gesucht, eine Wohnung gemietet, einen Prototypen gemacht und als sie etwa 100 Leute zusammen gehabt haben, sind sie auf die Suche gegangen nach einem Ort wo das gemeinsame leben, zusammen arbeiten und sich gegenseitig inspirieren und unterstützen möglich ist. Man hat mit Crowdfounding und privaten Geldern diesen Ort geschaffen.

Wie trefft ihr Entscheide, wenn es keinen Chef im herkömmlichen Sinne gibt?

Jemand kommt mit einem Thema. Zum Beispiel beim Essen, einer Abendveranstaltung oder in der Kochgruppe. Die Person sucht sich 2 oder 3 Leute, die zu diesem Thema etwas beitragen können und um einen konkreten Vorschlag zu einem Thema aufzubereiten. An einem Community Treffen wird der Vorschlag dann eingegeben. Der Vorschlag zum Entscheid wird im Protokoll sichtbar gemacht. So dass alle sehen um was es geht. Darauf gibt es nochmal eine Diskussionsrunde, wenn das Thema im Protokoll erscheint und jeder kann Fragen dazu stellen, jeder kann seine Meinung dazu geben. Im Community Treffen entscheiden wir soziokratisch. Falls es jemand gibt mit einem schwerwiegenden Einwand ist diese Person verpflichtet, an einer künftigen Lösung mitzuarbeiten.

Das ist eine spannende Vorgehensweise. Wieso geht ihr so vor?

Das hat mit der Selbstverantwortung zu tun. Es geht wie nicht, dass einer sagt: ich will das nicht, und dann nichts für die Sache beiträgt. Selbstorganisiert sein auf der Basis der Soziokratie heisst, dass man sich nicht aus der Verantwortung zieht, sondern mitgestaltet. So erreichen wir nachhaltigere Entscheidungen.

Das kann sehr herausfordernd sein. Hast du ein konkretes Beispiel dazu?

Ja aktuelles Beispiel ist die 3. Etage, die wir im Effinger gerade ausbauen. Dieser Ausbau ist ein komplexes Geschäft mit finanziellen Konsequenzen. Diese Komplexität ist eine grosse Herausforderung, jeder muss das Geschäft verstehen für das Entscheiden. Da kann es schon sein, dass jemand sagt: „das Geschäft ist mir zu komplex und ich verstehe nicht alle Details. Dennoch stimme ich mit Konsent zu“. Dann braucht es Vertrauen in diejenigen, die das Geschäft umsetzen. Denn mit dem Entscheid trägt die Community auch die Verantwortung.

Es klingt insgesamt nach viel Engagement und Zeitinvestition. Bist du 7 Tage die Woche, 24 Stunden am Tag für den Effinger im Einsatz?

Nicht ganz, aber es heisst, dass wir für ein Projekt auch mal am Wochenende zusammen kommen. Man muss es anders denken. Leben und Arbeit betrachten wir nicht als zwei separate Bereiche. Es kann sein, dass jemand tagsüber seine Kinder mal mitnimmt. Wie Fabian, unser Filmemacher. In der Zeit wo dir Kinder 0 bis 4 Jahre sind ist das möglich. Fabian arbeitet dann während die Kinder hier spielen.

Hast du noch Freizeit oder gar Ferien?

Ja, mehr als vorher im gewöhnlichen Erwerbsleben. Du musst niemandem dienen. Sondern du kannst deine Zeit für dich und oder die Community einsetzen. Unter den Effianer gibt es unterschiedliche Lebensweisen. Die Zeit, die man investiert oder die Aufgaben gestaltet man nach dem eigenen Rhythmus. Gewisse Aufgaben sind fix, wie ein Projekt, dass zeitlich stehen muss. Aber insgesamt habe ich viel mehr Freiräume. Es braucht eine eigene gute Selbstorganisation, und das Vertrauen, dass man Unterstützung in der Gemeinschaft findet. Wir beraten und unterstützen uns gegenseitig. Das hilft insgesamt sehr. Aber eigentlich kann man sagen: ich hab immer Ferien. Weil ich in einem Freiraum des Gestaltens bin.

Du bezeichnest ein Community-Mitglied als «Effianer». Was beinhaltet das? Was muss ich mir darunter konkret vorstellen?

Ein Effianer ist ein Community-Mitglied, das die Organisation der Community mitträgt und eine Rolle übernimmt. Das heisst, der Effianer investiert rund 10 % seiner Zeit für den Effinger. Das können Aufgaben sein wie zum Gebäude schauen, die Rauminfrastruktur in Schuss halten oder bei der Raumgestaltung mitwirken. Es kann aber auch die Kundenbetreuung sein. Oder er bringt eine Kompetenz für die Beratung von Leuten der Community ein. Das Thema ist die gemeinsame Ständigkeit, im Gegensatz zur Selbst-Ständigkeit. Man kann es als einen Art «Schenkzeit» ansehen, die er in die Effinger-Community gibt. Diese ist aber nicht unbegrenzt. Es kann sein, dass die Zeit über die vereinbarte Zeit hinaus geht. Diese wird dann bezahlt.

Sind die «Effianer» daneben noch arbeitstätig im herkömmlichen Sinne?

Primär bin ich als Effianer Teil einer Coworking Community, bin selbständig und habe einen Arbeitsplatz im Haus, den ich aktuell an zwei Tagen pro Woche nutze.

Den Effinger erlebe ich als einen inspirierenden Arbeitsort. Die Zimmer sind interessant gestaltet, es hat Winkel und kleine Arbeitsecken. Aber auch Kabinen, wenn man konzentriert und ungestört telefonieren will.

Unsere Ansicht ist, dass die Räume einladend, jedoch zugleich nicht perfekt sein müssen. So lassen wir Raum für das Mitgestalten. Wir laden Gäste dazu bewusst ein und so bekommen sie vielleicht ja auch Lust dazu, mitzuwirken.

Der Effinger ist jetz nicht «nur» Co-Workingspace und Kaffeebar. Ihr habt schon etliche, zusätzliche Bereiche geschaffen. Welche sind zentral?

Ja, das Co-Learning. Das bedeutet: lernen mitten in der Gesellschaft. Daraus ist im Effinger wie eine Organisation entstanden, die sich der Bildung und dem Lernen widmet. Das betrifft alle. Ganz nach dem Motto: « Ich lerne bis ans Lebensende». Im Co-Learning sind aktuell 7 Jugendliche 13 bis 15 jährig, die bei uns Zeit verbringen als Co-Learner. Das läuft offoziell unter Homeschooling. Die Eltern sind nicht immer da, tragen aber die Verantwortung. Zwei bis drei Tage sind die Jugendlichen da und werden von einem Mentor betreut.

Ich selber habe aktuell das Mentoring von einem der Co-Learner übernommen. Einmal pro Woche frage ich ihn, an was er arbeitet, was er braucht und wie es ihm dabei geht. Der Junge macht die Matur und hat das klare Ziel, Architekt zu werden. Er ist dabei recht selbständig unterwegs.

Das ist noch nicht alles. Darüberhinaus habt ihr noch mehr Angebote.

Ja, es gibt noch das Kunst Co-Working, das ist Bestandteil der DNA wie das Co-Learning. Das sind Arbeitsplätze für Leute, die im künstlerischen Bereich tätig sind. Es besteht aus einer Gruppe, die sich regelmässig über Kunst austauscht und ab und zu auch ein Kunstfestival organisiert. Was neu entstand ist ein Philosophie Event mit thematischen Diskussionsabenden. Das erste mal war Bildung das Thema. Oder es gibt die Kochgruppe mit ungefähr 8 Leuten, die am Dienstag und Donnerstag kochen. Eine Person kocht und die restlichen sieben können gemütlich mitessen. Die Überlegung am Anfang war, wie können wir essen und kochen erlebbar machen und mehr Beziehung zum Essen und untereinander schaffen. Auch da entsehen wertvolle Gespräche.

Und dann gibt es noch den Salon für Zukunft Wirtschaft. Am Wirtschaftsapéro laden wird innovative Kleinunternehmer und Macher ein, um sich über die Erfahrungen auszutauschen. Letztes Jahr hat dies zum ersten Mal stattgefunden. Es gab acht Kurzreferate, die aufgezeichnet und online gestellt wurden. Wir wollen aus den bestehenden Strukturen ausbrechen und schauen, was daraus entsteht. Das Wirtschaften soll sich am Bedürfnis der Gesellschaft orientieren.

Alles in allem kann man für den Effinger sagen, wir wollen niemanden von neuen Konzepten überzeugen wollen. Es soll ein Ort für Inspiration und Ausprobieren sein.

Eine interessante Sichtweise, die auf der Homepage des Effingers zu finden ist zum Schluss zu Ihrer weiteren Inspiration:

Ein Arbeitsplatz wurde immer mehr zu einem Ort, an dem die Menschen Masken tragen, sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn. Um Position und Identität auszudrücken gibt es auch Uniformen, blaue und weisse Kittel und Krawatten. Damit drückt der «Arbeitgeber» auch gerade seinen Anspruch auf die Person aus. Mit oder ohne Uniform haben viele Menschen das Gefühl, dass sie einen Teil ihres Selbst zurücklassen müssen, wenn sie zur Arbeit gehen. Man setzt sich eine professionelle Maske auf und richtet sich nach den Spielregeln des Arbeitgebers.

Im Buch «Reinventing Organizations – ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit» geht der Autor Frederic Laloux dieser Frage nach: «Warum lassen wir so viele Aspekte unseres Seins zurück, wenn wir zur Arbeit gehen?»

Weitere Buchempfehlung: Das Wesensgeheimnis der Seele von Heinz Grill. Darin wird der Soziale Prozess dargestellt, bei dem jeder Einzelne einen gesamten Prozess in der Begegnung, egal ob in Arbeitsteams oder dem persönlichen, privaten Umfeld, mit konkreten Gedanken mitgestalten lernt.


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