
„Es ist gewiß wertvoll, wenn der Mensch auch ein Herz hat und nicht bloß Gedanken. Aber das Wertvollste ist, wenn die Gedanken ein Herz haben. Das haben wir jedoch ganz verloren.“ Rudolf Steiner (Lit.: GA 217, S. 21)
Rudolf Steiner hat die Nöte des Zusammenlebens in unserer Zeit sehr gut erkannt:
Es kommt darauf an, daß man einen gesunden Willen und ein gesundes Herz hat, um die Welt von jedem Standpunkte aus betrachten zu können. Aber die Menschen wollen heute nicht das, was sie von den verschiedenen Standpunkten aus gewinnen können, sondern wichtiger ist ihnen die egoistische Behauptung ihrer Standpunkte. Damit schließt man sich aber in der rigorosesten Weise von seinem Nebenmenschen ab. Sagt einer etwas, geht man nicht ein auf das, was er sagt, denn man hat ja seinen Standpunkt. Aber dadurch kommt man sich nicht näher. Näher kommt man sich, wenn man seine verschiedenen Standpunkte in eine gemeinsame Welt hineinzustellen weiß. Aber diese gemeinsame Welt fehlt heute ganz. Eine gemeinsame Welt für den Menschen findet sich nur im Geiste. Und der fehlt.
Das ist das zweite, und das dritte ist: Wir sind im Grunde genommen im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts als mitteleuropäische Menschheit nach und nach doch recht willensschwach geworden, willensschwach in dem Sinne, daß der Gedanke nicht mehr die Kraft gewinnt, den Willen so zu stählen, daß der Mensch, der doch ein Gedankenwesen ist, die Welt aus seinen Gedanken heraus zu gestalten vermag. Wenn davon gesprochen wird, daß die Gedanken blaß sind, sollte man daraus aber nicht den Schluß ziehen, daß man keine Gedanken braucht, um als Mensch zu leben. Die Gedanken sollten nur nicht so schwach sein, daß sie im Kopfe oben sitzen bleiben. Sie sollten so stark sein, daß sie durch das Herz und durch den ganzen Menschen bis in die Füße hinunter strömen; denn es ist wahrhaft besser, wenn statt bloßer roter und weißer Blutkügelchen auch Gedanken unser Blut durchpulsen. Es ist gewiß wertvoll, wenn der Mensch auch ein Herz hat und nicht bloß Gedanken. Aber das Wertvollste ist, wenn die Gedanken ein Herz haben. Das haben wir jedoch ganz verloren. Die Ge danken, welche die letzten vier bis fünf Jahrhunderte gebracht haben, können wir nicht mehr ablegen; aber diese Gedanken müssen auch ein Herz bekommen.
Und sehen Sie, jetzt will ich Ihnen ganz äußerlich einmal sagen, was in Ihren Seelen lebt. Sie sind herangewachsen, haben die ältere Generation kennengelernt. Diese ältere Generation hat sich in Worten dargestellt. Sie konnten nur Phrasen hören. In dieser älteren Generation stellte sich Ihnen ein unsoziales Element dar. Der eine ging an dem anderen vorbei. Und in dieser älteren Generation stellte sich Ihnen auch dar die Ohnmacht des Gedankens, den Willen, das Herz zu durchpulsen. Mit der Phrase, mit dem antisozialen Konventionalismus und mit der bloßen Lebensroutine statt der Herzens-Lebensgemeinschaft konnte man so lange sich halten, als noch die Erbschaft der vorigen Generationen vorhanden war. Diese Erbschaft war ungefähr am Ende des neunzehnten Jahrhunderts dahin. So war für Sie nichts da, was zu der eigenen Seele sprechen konnte. Sie fühlten aber, daß in den Tiefen gerade in Mitteleuropa etwas vorhanden ist, was das tiefste Bedürfnis hat, wiederum zu dem zurückzufinden, was einmal jenseits der Phrase gelebt hat, jenseits der Konvention, jenseits der Routine: das Bedürfnis, wiederum Wahrheit zu erleben, wiederum menschliche Gemeinschaft zu erleben, wiederum Herzhaftigkeit des ganzen Geisteslebens zu empfinden. Wo ist denn das? So sagt eine Stimme in Ihrem Innern.
Quelle: https://odysseetheater.org/GA/Buecher/GA_217.pdf#page=21&view=Fit