
Wir empfinden heute nicht mehr oder nur noch selten. Eine Folge der modernen, getriebenen Welt. Wie können wir diese feine menschliche und wertvollste Regung wiederentdecken?
Sie stehen an einem feinen Sandstrand, die Füsse umschmeichelt vom lauwarmen Wasser, die Sonne ist langsam am untergehen. Der Himmel verfärbt sich purpurrot, leise weht ein Wind und streift sanft Ihre Haut, Ihre Haare. Eigentlich ein wunderschöner Moment. Ein Moment, der in Ihnen Empfindungen auslösen könnte. Sie aber verspüren keine wirkliche innere Berührung. In Ihnen bleibt es regungslos.
Kennen Sie das? – Es gibt viele Gründe, warum wir heute empfindungsloser sind. Das versteht sich fast wie von alleine, wenn man bedenkt, welchen massiven Einflüssen der Mensch im modernen Leben ausgesetzt ist. Wir sind oftmals völlig reizüberflutet. Von tausenden von Nachrichten und Bildern in den Medien, vom dichten, lauten Verkehr auf den Strassen, von grossen Menschenmengen auf Bahnhöfen oder in Städten, vom eng getakteten Alltag ohne Besinnungspausen.
Der Mensch reagiert unterschiedlich auf all diese Einflüsse. Der Eine zieht sich eher zurück und versucht so der gesamten, auf ihn einprasselnden Flut von Informationen zu entrinnen. Sich ins Schneckenhaus zurückzuziehen. In einen Rückzug zu gehen und sich vor negativen Einflüssen zu schützen birgt in sich die Gefahr, insgesamt passiv und apathisch zu werden und sich möglicherweise im äussersten Falle gar nicht mehr aus dem Haus zu wagen. Andere reagieren auf soviel Belastung von aussen mit einer völligen Überspanntheit. Finden nicht mehr wirklich in eine Ruhe hinein und zerspringen innerlich fast vor lauter Anspannung, sind dauernd auf dem Sprung und hetzen von einer Aufgabe, von einem Termin zum nächsten. Bei beiden Erscheinungen wird eine bewusste Wahrnehmung nach aussen nicht mehr möglich sein. Beim Menschen, der den Rückzug und eine Art Schutz sucht, wie auch beim Überspannten, Hyperaktiven. Gerade aber diese Wahrnehmung wäre elementar wichtig in der Entwicklung von Empfindungen. Dies erfordert in der heutigen Zeit – so abstrus es auch klingen mag – der Übung oder der Schulung.
Empfindung versus Emotion
Eine Empfindung ist aber nicht zu verwechseln mit einer Emotion. Eine Empfindung ist etwas sehr sensibles, etwas feinfühliges. Im Gegensatz zur Emotion wirk die Empfindung verbindend unter Menschen. «Eine Empfindung ist eine Lichtwesenheit», beschreibt der spirituelle Lehrer und Autor Heinz Grill in seinem bedeutsamen Werk «Das Wesensgeheimnis der Seele». Die Empfindung kann sich nahe an das seelisch individuelle Leben «anschmiegen». Sie gibt dem Menschen Schutz, Ordnung und Stärke. Sie entwickelt sich aus einem getätigten Gedanken oder einer konkreten Vorstellung, die der Mensch erbaut. Die gedankliche Ebene wird also mit einer Empfindung nicht verdrängt. Sondern verbindet den Menschen mit dieser.
Ganz im Gegensatz zu der Emotion. Eine starke Emotion – das können wir uns wahrscheinlich gut vorstellen, weil es uns wohlbekannt ist – ist sehr körpergebunden. Die Emotion steigt aus dem Körper mit ihrer gesamten Wucht auf. Beispielsweise wenn wir in einen Streit geraten. Diese Art der Emotion wirkt trennend. Sie birgt zudem in sich nichts Neues, sondern entsteht aus dem Alten heraus, aus dem organischen oder gebundenen Leben. Wollen wir eine Empfindung zu einer Sache entwickeln erfordert dies also ein Heraustreten aus reinen Emotionen, gewohntem Verhalten oder auch Schwelgen. Wie wenn wir den eingangs beschriebenen Sonnenuntergang mit lapidaren Ausrufen begleiten würden wie: »Ooh, wie schöön!» und es bei dem belassen.
Wie aber entsteht überhaupt eine Empfindung?
Im Alltag streifen wir all die Dinge, die uns umgeben nur sehr oberflächlich und schnell. Es bleibt uns nicht die Zeit, uns einmal etwas länger und vertieft mit einer Sache auseinanderzusetzen. Genau dies braucht es aber, wollen wir wieder mehr empfinden lernen. Wenn wir uns einem Objekt der Betrachtung hinwenden und uns dabei einmal zwei Minuten Zeit lassen. Das kann eine Blume sein, ein Baum, ein Kunstwerk, ein Mensch oder ein Tier.
Methodisch geht diese Übung in diesen Schritten:
1. wir wählen ein Objekt der Betrachtung
2. wir wenden uns für 2 Minuten aufmerksam diesem Objekt zu, betrachten es mit allen Details (Farbe, Form, Ausdruck, wo wächst es, welche Grösse hat es etc.)
3. dann wenden wir den Blick ab oder schliessen die Augen und bauen das Gesehene vor dem inneren oder geistigen Auge wieder auf, mit allem was wir gesehen haben
4. wir wiederholen das nochmals zwei mal in der Folge
5. beim dritten Mal nehmen wir eine Forschungsfrage dazu. Beispiele: bei einer Blume können wir uns fragen: was ist das innere Sinnbild dieser Blume? Bei einem Menschen: was ist der mögliche nächste Entwicklungsschritt bei dieser Person? Oder: was ist ihr Motiv? Es sollte aber nicht zu vorschnellen Urteilen kommen oder intellektuellen Interpretationen. Die lassen wir beiseite und konzentrieren uns wieder auf die Forschungsfrage. Ebenso bei anderen Ablenkungen.
Mit der Zeit wird sich etwas einstellen, was wahrscheinlich ganz neu für Sie sein wird. Dies geschieht meist nicht nach einem Mal der Übung, sondern erst nach einer rhythmischen Wiederholung. Über die Zeit von drei oder mehr Tagen. Rhythmisch bedeutet in dem Sinne möglichst auch immer zur selben Tageszeit. Heinz Grill beschreibt diese Art der Übung als Seelenübung, was eine Vorstufe zur Meditation ist. (s. Buchempfehlung). Es ist wie eine Forschungsarbeit, die vollzogen werden kann. Was dann geschieht ist alles andere als unwesentlich. Eine ganz neue, feine, aber intensivere Beziehung entsteht zu dem Objekt der Betrachtung. Es entwickelt sich eine leise Empfindung für die Sache, das Pflanzenwesen, das Tier, den Menschen. Wie wesentlich wichtig menschliche Empfindungen im Leben sind wird uns wahrscheinlich spätestens dann bewusst, wenn wir uns ein weiteres, nicht ganz entferntes Bild vor Augen rücken.
Sie fahren auf der Autobahn. Vor Ihnen geschieht ein Unfall, es gibt mehrere Schwerverletzte. Wieviele Menschen fahren heute an solchen Unfällen vorbei oder zücken bestenfalls ihr Handy um Fotos zu machen. Das ist kein gesundes, menschliches, empfindsames Verhalten.
Ein Mensch mit einer guten Wahrnehmung nach aussen und gesunden Empfindungen wird anhalten und zu Hilfe eilen. Er wird die kostbare Perle im Meer sein, dem vielleicht ein verletzter Mensch sein Leben verdanken wird.
Inspiriert durch den Besuch der Yogalehrausbildung in Naone, Italien
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und dem Vortrag «Das Ideal der Beziehungsgestaltung und die Niere» von Dr. Med. Jens Edrich
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