Konsum und kein Ende in Sicht – oder doch?

Wir konsumieren was das Zeug hält. Wer kann uns das verübeln? Wir kennen nichts anderes. Wir sind so gross geworden. Ich jedenfalls. Ich darf gar nicht daran denken, wieviele Stunden ich als Teenager vor der Mattscheibe verbracht habe. Nächtelang hab ich beispielsweise das Jazz Festival Montreux in der Schweiz verfolgt. Ganz heimlich natürlich. Im Gästezimmer meines Grossvaters, wenn er gerade nicht zu Besuch war. Das bekam keiner mit in der Familie. Nicht mal meine Geschwister.

Das Jazz Festival Montreux mit Stars wie Aretha Franklin, Van Morrison, Al Jarreau und anderen Grössen in dieser Zeit war zumindest eine Art kulturelle Weiterbildung und Erweiterung meiner damaligen Musikkenntnisse im Bereich des Jazz und Blues. Trotzdem. Ich gestaltete in der Zeit vor dem Fernseher nichts, hatte keine Ideen, was ich sonst noch hätte tun können. Keine verrückten Einfälle, die zu dieser Zeit wohl angesagt gewesen wären, um gehörig die Hörer abzustossen und meine Grenzen auszutesten. All meine Sinne waren stundenlang belegt, mein Gehirn nicht wirklich im Gange. Diese Berieselung brauchte ich immer wieder.

Wie entscheidend ist das für ein Verhalten, das einem fürs Leben prägt.

Man sitzt vor dem Fernseher und konsumiert. Später entwickelt sich ein anderes Hobby: man geht shoppen. Die neusten Kleider, bunte Kosmetika, schigge Schuhe. Man geht ins Restaurant, isst, trinkt. Sucht sich einen Mann, einen Schönen. Einen nächsten…Das ganze Leben ist Konsum. Ohne es zu bemerken. Es ist „normal“, sich nicht vertiefter mit den Erscheinungen und Phänomenen des Lebens auseinanderzusetzen.

Wie seelisch arm dieses Leben ist kann man vielleicht an den vielen Wochenenden bemessen, an denen man sich als jungen Menschen sturzbetrunken von nächtlichen Eskapaden ins Bett fallen lässt.

Inwiefern ist dies Ausdruck einer verloren gegangenen Freude am echten Leben, am Entdecken, am Erforschen, am Neues lernen? Am Erproben und ausdehnen der eigenen Grenzen? So bleiben sie eng, diese Grenzen. So trügerisch der Glaube oder das Gefühl, in diesen Eskapaden ein Abenteuer, eine Freiheit aus den Fesseln der Gebundenheit und engen Konventionen zu erleben.

Dieses Verhalten ist jetzt in unserer Gesellschaft nichts Aussergewöhnliches. Es wird als „normal“ angeschaut. Als allgemein üblich. Das man bestenfalls mit ins Erwachsenenalter hinübernimmt. Wir werden zu unkreativen, konformen, steuerbaren Menschen, die dem Geld hinterher rennen müssen. Denn einer muss ja das Ganze auch finanzieren. Sind wir erfüllt und glücklich dabei? Wohl kaum. Mitunter zeugen die vielen übergewichtigen Menschen in der westlichen Welt von einer inneren Beziehungslosigkeit und Leere, die permanent kompensiert werden muss. Mit Essen. Trinken. Kaufen. Social Media Konsum. Usw. Usw.

Der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm schreibt in seinem Buch: «Wege aus einer kranken Gesellschaft»:

Nehmen wir an, es gäbe in unserer westlichen Kultur einmal nur vier Wochen lang weder Kino noch Rundfunk noch Fernsehen, weder sportliche Veranstaltungen noch Zeitungen. Welche Folgen hätte das für die Menschen, die auf sich selbst angewiesen wären, nachdem man ihnen diese Hauptfluchtwege verschlossen hätte? Ich zweifle nicht daran, dass es bereits innerhalb dieser kurzen Zeit zu Tausenden von Nervenzusammenbrüchen käme und dass ausserdem noch viele Tausende in einen Zustand der akuten Angst gerieten, der sich nicht von dem Bild unterscheiden würde, das klinisch als «Neurose» diagnostiziert wird. Wenn man diesen Menschen das Opiat gegen den gesellschaftlich vorgeprägten Defekt entziehen würde, so käme die Krankheit zum Ausbruch.

Fromm geht also davon aus, dass durch die permanente Kompensation der wirkliche Zustand oder die psychische Krankheit der westlichen Welt nicht zum Vorschein kommt. Und so gesehen auch nicht geheilt werden kann. Weil jeder glaubt, er sei (psychsich) gesund.

„Glücklich sein heisst immer neuere, bessere Waren konsumieren, sich Musik, Filme, Vergnügen, Sex, Alkohol und Zigaretten einverleiben…Jedermann ist „glücklich“ – nur fühlt er nichts, kann er nicht mehr vernünftig denken und kann er nicht mehr lieben.Die ernüchternde Diagnose des „Patienten“ Gesellschaft aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts könnte zugleich der Befund der heutigen Zeit sein. (1. Seite des Buchumschlages)

Das Leben ist im Westen grösstenteils Konsum. Wie schädlich dies nicht nur für uns, sondern auch für unsere Umgebung ist, bemerken wir spätestens oder am offensichtlichsten an der Entfremdung von uns selbst, den Folgen in der Natur oder möglicherweise auch am gesundheitlichen Zustand unserer Kinder.

Kein oder weniger Konsum – ja, was aber dann?

Ich wusste auch nicht, wie ich meinem unbändigen Drang nach Caramel Salato Herr werden konnte. Dieser köstlichen Glace mit kleinen Caramelstückchen, erst noch gesalzen und damit noch intensiver im Geschmack. Oder dem Widerstehen vom Reinstechen in Boutiquen mit weiblicher und farbenfroher Mode zum Beispiel in italienischen Kleinstädten, die man in der Schweiz kaum findet. Die Verlockungen von ästhetisch schöner Ware sind dort überall vielfältigst, begibt man sich in die gewundenen Gässchen und Piazzas.

Bis ich an einem Kulturtag der Spirituellen Hochschule Naone in Italien teilnahm. Wir besuchten das Städtchen Riva am oberen Ende des Gardasees. Auch hier gab es Caramel Salato in den Gelaterias. Auch hier leuchteten uns die eleganten Blusen und bunten Bikinis aus den Schaufenster entgegen. Wir aber hatten einen Auftrag. Und das war nicht der, die Läden zu plündern. Sondern die Menschen, die in dieser Stadt sind, zu betrachten. Also nicht im Sinne von glotzen. Sondern durch die Gassen zu gehen und die Menschen wahrzunehmen. In Begleitung mit Forschungsfragen, inspiriert vom spirituellen Lehrer und Geistforscher Heinz Grill: Wie kommen uns die Menschen hier entgegen? Wie sind sie in ihrer Haltung? Wirken sie eher eingesunken oder aufgerichtet? Wie ist der Blick? Eher nach aussen gerichtet oder nach innen versunken? Natürlich ohne moralisierende Wertung daraus entstehen zu lassen. Sondern als Kriterien zur Betrachtung. Sonst würde man die Menschen wohl eher anstarren als sie natürlich wahrzunehmen.

Wir gingen also mit einem Inhalt durch den beschaulichen Ort. Mit einem Gedanken. Mit einer Forschungsfrage oder gar mehreren. Unsere Blicke waren von Anfang an nach regsam aussen gerichtet, bewusst auf ein Objekt. Auf ein Objekt der Betrachtung. Unsere Sinne wurden dadurch bewusst gelenkt und geschult – durch unsere Forschungsfragen. Wir wandten uns ganz bewusst und aufmerksam nach aussen. Wir klebten nicht an unseren unbewussten Triebe, die uns automatisch in die nächstbeste Cafeteria zog. Durch diese Betrachtungsübung entstand in mir eine Ruhe. Im Gegensatz zum Getriebensein beim Shoppen.

Mir begegneten Menschen mit einem strahlenden Lächeln, einem wachen und offenen Blick. Andere etwas mehr in sich gekehrt und weniger zugänglich erscheinend. Die einen mehr in einer Leichtigkeit aufgerichtet, andere etwas gedrückt und wie von einer unsichtbaren Last beschwert. Neutral betrachtet. Ohne innerliche moralisierende Bewertung.

Die interessante Beobachtung war die, dass je länger der Spaziergang durch die Gassen ging, desto offener wurden die Begegnungen und Blicke. Als ich meine Nase an eine Eingangstür eines Kleiderladens klebte, weil dort ein Konzert in einem nahegelegenden Eventlokal ausgeschrieben war, kam ich ganz leicht in ein kurzes Gespräch mit der Ladenbesitzerin. Ihr Mann hinter der Theke beäugte mich interessiert und mischte mit ein. Obwohl jetzt kein tiefschürfendes Gespräch über Kunst oder Musik entstand, es war eine heitere Begegnung in freundlicher Atmosphäre und liess mich aufgenommen fühlen. Dies prägte auch die Stimmung beim weiteren Spaziergang durch das Städtchen. Schön.

Mit wie wenig ist ein Gang durch einen Ort anders als gewöhnlich. Schlendern mit Sinn sozusagen. In Begleitung mit einem Gedanken, einer Forschungsfrage erhellt sich das Ganze. Macht es lebendiger und interessanter. Ich entdecke und erkenne etwas dabei. Nehme die Menschen wahr und auch mich selbst. Es lässt einem beidseitig mehr in Beziehung treten.

Und eines gibts mit diesem Spaziergang mit Inhalt oder einem Gedanken noch gratis obendrauf: Caramel salato und die italienischen Blusen rücken in weite Ferne. Kein Verlangen mehr nach schlecken und shoppen. Ganz erstaunt über dieses Phänomen wartete ich darauf, dass dieser Drang um die nächste Ecke flizt. Nichts dergleichen, ich wartete vergebens. Er liess sich nicht blicken. Und schon sassen wir wieder im Auto Richtung heimwärts. Liessen die Bilder der Menschen und Gassen Revuepassieren, tauschten uns darüber aus, was jeder erlebt und empfunden hatte. Interessante, individuelle Erkenntnisse. Aber eines war uns gemeinsam: wir waren erfüllt von diesen Bildern. Erbaut von bewussten Begegnungen, der Ort hoffentlich auch. Wir waren erstaunt ob so viel Entdeckungen. Eingebttet in dem, was uns umgab. Konsum ade – und es tat nicht mal weh.


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