Stress ist längst keine Managerkrankheit mehr. Er beginnt oft schon in der Schule. Der vom Lehrplan vorgeschriebene Stoff muss gepaukt und von den Kindern oder Jugendlichen aufgenommen und möglichst beherrscht werden. Im Hinterkopf immer das Ziel der schnörkellosen Bestmarke, die höchste Note. Ein Fakt, der per se Leistungsdruck auslöst.

Nicht so in Bratsch. Im oberwalliser Bergdorf hat Damian Gsponer vor rund 7 Jahren eine Schule der anderen Art gegründet. Hier gibt es weder Unterricht, noch Klassen, noch Noten.
Hier das grosse Interview – viel Spass beim Lesen!
Damian Gsponer, was für eine Idee leitete Sie bei der Gründung dieser Schule ?
Beim Start der Schule haben wir uns die Überlegung gemacht: wie kann Kindheit heute aussehen? Mit dem was wir wissen, mit unseren Wertansprüchen, in einer Gesellschaft wie sie heute ist. Wir haben die Schule aufgrund dieser Gedanken aufgebaut und es ging dann um Themen wie Geborgenheit, Bindung und Kommunikation. Themen, die eine stabile Möglichkeit geben aufzuwachsen. Wir haben ganz viele Schulen angeschaut und geschaut wie die funktionieren. Das was ich als „best practice“ empfand haben wir zusammengewürfelt.
Jetzt arbeiten wir in 3 Gruppen. Wir haben einen Zyklus 1. Der dauert plus minus 4 Jahre. Dann der Zyklus 2 und 3. Das sind verschiedene Lernphasen, die ineinandergreifen können.
Der Mensch – also das Kind – steht in der Mitte und nicht der Stoff?
Wir haben nicht die Schule in die Mitte gestellt, sondern eben die Kindheit und was es für die braucht. Denn wenn man an Schule denkt ist der Wissensbereich sehr fokussiert. Dann gehen die Äste hinaus: Mathematik, Deutsch usw. Wenn wir Kindheit in die Mitte stellen sind die Äste eben: Geborgenheit, Bindung, Kommunikation, Konfliktlösung usw. Das ist die Grundlage. Irgendwann kommen dann die Wissensthemen schon auch. Aber nicht als Hauptast. Weil der ist sehr brüchig, wenn er nicht auf dem Boden von guter Beziehung ist.
In Bratsch gibt es keine Klassen, keine Noten, keinen Unterricht, keine Bewertung, keine Belohnung. Wie muss man sich den Schulbetrieb dann vorstellen?
Eine zentrale Säule ist das Einzelgespräch mit dem Kind. Es geht um die Frage: wie geht es dir? Das ist der erste Block des Gespräches. Im einem zweiten Teil kommt ein Leistungsthema dazu, da geht es um die Ziele des Kindes. Wir schauen, wie weit ist das Kind in seinen Zielsetzungen gekommen? Hat es geklappt und wenn nicht, warum hat es nicht geklappt. Anschliessend werden Strategien definiert und nächste Ziele vereinbart, an denen es während einer Woche arbeitet. Je nach Alter, je nach Reife teilt es sich bei der Arbeit selber ein. Mehr oder weniger begleitet.
Die andere Säule ist das projektartige Arbeiten das wir haben. Dass die Kinder möglichst viele realitätsnahe Projekte machen, die für sie interessant und bedeutsam sind und eine Realitätswirkung haben. Wir merken, dass Kinder gerade bei Projekten über sich hinauswachsen.
Nun stellt sich die Frage: wie lernt ein Kind in Bratsch die herkömmlichen Fächer wie Mathe oder Französisch?
Wir schauen in Bezug auf Wortschatzerarbeitung beim Kind: wie funktionierst du? Das ist ein entscheidender Punkt. Es gibt unterschiedliche Wege und entsprechende Lösungen. Es gibt Kinder, die können sich den Wortschatz am besten ganz alleine über ein Programm am besten erarbeiten und können die Sprache anschliessend mündlich erproben. Das kann zum Beispiel an einem Mittagstisch sein in dieser Sprache. Wir haben im Elternpool Eltern, die französisch sprechend sind. Wir waren auch an Märkten im Unterwallis Waren verkaufen. Oder wir haben auch eine Partnerschule, wo Kinder sich wochenweise aufhalten können. Die Fremdsprachen lernen die Kinder also möglichst durch Begegnung. Oder es gibt auch die Möglichkeit, die Fremdsprachen per Vera F. Birkenbihl-Methode mit Bildern und dem Vorstellungsvermögen in Bilder zu lernen. (s. Link am Ende des Artikels). Die Lernmethode ist auch hier individuell und mit einem Findungsprozess verbunden. Deshalb sind immer die Einzelgespräche elementar wichtig und ebenso die Projekte.

Diese Projekte sieht man auch im Dokumentarfilm „Bratsch – ein Dorf macht Schule“, der im Januar 23 in die Kinos kam. Die Kinder bauen einen Hühnerstall oder kreieren einen online-Shop, über den sie selbstgemachte Produkte verkaufen, wie ein Schokoladenaufstrich ohne Palmöl. Auch diese Arbeiten bekommen keine Noten, denn Sie vertreten die Haltung: Die Note ist das Ende des Lernens. Wie verstehen Sie das?
Wenn Kinder einen Hühnerstall bauen und wir das mit einer Note beziffern, dann ist das weder eine würdevolle noch eine hilfreiche Rückmeldung. Die Problematik ist, wenn die Kinder beim Start des Baus wissen dass es eine Note gibt, dann steht die Note im Fokus und nicht der Bau. Sie werden sich so verhalten, dass sie die Kriterien gut erfüllen, um diese Note zu erreichen. Währenddem sie ohne Zielorientierung Note sich auf den Prozess einlassen, kreativer sind und ganz andere Wege entstehen. Dieser manipulative Effekt: ich verhalte mich gemäss Kriterien, die in der Regel ein Erwachsener vorgibt, entwertet den Inhalt. Das ist für das Lernen tragisch. Weil mit Note ist es ein blosses Hüpfen von Zahl zu Zahl. Der Inhalt ist völlig Wurst. So entsteht kein wirklicher Lernprozess.
Was ich noch schwieriger oder tragischer finde ist, dass zwei Gruppen entstehen. Eine Gruppe, denen gelingen diese guten Noten, den andern gelingt das nicht. Also einmal Misserfolg und einmal Erfolg. Misserfolg bedeutet: ich bin nicht gut genug. Wenn das ein Kind über längere Zeit das als Zahlenrückmeldung bekommt, dann macht das etwas mit seinem Selbstwert. Bei den sogenannt „Erfolgreichen“ finde ich das nicht weniger tragisch, weil die messen den Erfolg am Resultat. Irgendwann beziehen die den Selbstwert aus der Leistung. Das ist gefährlich. Ich denke, das ist einer der grössten Krankheiten unserer Gesellschaft. Dass so viele Menschen ihren Selbstwert aus Leistung beziehen und denken, sie müssten dies oder jenes erreichen um wertvoll zu sein. Damit sind wir in der brisanten aktuellen Thematik Burnout und Stress. Wir sind auf Leistung getrimmt. Ich denke, wir werden so konditioniert und dies ebnet den Weg um irgendwann krank zu werden.
Unsere Wirtschaft funktioniert aktuell weitgehendst so. Ergo müssen auch unsere Kinder darauf eingestimmt werden. Wie schaffen sie es, die Kinder fit zu machen für den Einstieg ins Berufsleben?
Wir haben damals mit Zyklus 1 und 2 begonnen, also mit Primarschüler. Haben dann bei der Konzeption des Zyklus 3, also der Sekundarstufe 1, die zehn grössten Unternehmen im Unterwallis eingeladen. Unsere Kinder haben ihnen erklärt wie wir arbeiten. Danach haben wir diese Firmenchefs in unserer Turnhalle versammelt, ohne die Kinder, und ihnen die Frage gestellt: wenn ihr Zyklus 3 konzipieren könntet, ganz frei, wie würdet ihr das tun? Damit die Kinder möglichst gut vorbereitet sind auf das, was kommt? Es kamen sehr gute Ideen zusammen.
Die Hauptidee, die umgesetzt worden ist, ist die: wir gingen nicht von der Vorstellung aus, dass hier die Schule ist und da die Wirtschaft, in der sich das Kind dann irgenwann mal bewirbt und den Sprung nach den Sommerferien macht von hier nach da. Sondern die Idee war, dass wir den Übergang überschneiden. Sobald für eines der Kinder klar ist, in welcher Branche oder in welcher Firma es arbeiten wird, beginnt die Zusammenarbeit. Es geht einen Tag in der Woche in dieser Firma arbeiten und vier Tage ist es bei uns. Manchmal sind es auch Wochenblöcke. Die Firma gibt Rückmeldungen. Wie zum Beispiel, dass grundsätzlich alles gut läuft, aber das Kind etwas schüchtern ist. So wissen wir, dass wir an der Kommunikation arbeiten. Diese Parallelschiene bauen wir mindestens für ein halbes Jahr auf.
Am ersten Lehrtag ist für das Kind die Bezugsperson in der Firma bekannt, es kennt die Kultur, sicherheitstechnische Fragen sind geklärt, es geht bereits gut orientiert an den Start. Dasselbe machen wir mit dem stofflichen Inhalt, mit der Frage: was kommt in der Berufsschule auf mich zu? Sie lernen zwar nichts vor, aber sie wissen, was sie thematisch erwartet. Wir bauen gemeinsam ein Archiv auf, so dass die neuen Inputs gut eingeordnet werden können. Damit schaffen wir einen weichen Übergang.
Was uns sehr in die Karten spielt ist der Fakt, dass die Wirtschaft sich auch ein Stück weit in diese Richtung entwickelt. Ein Beispiel ist die Swisscom mit ihrem Motto: „Mensch vor Dossier“. Innerhalb der Lehre bewerben sich die Lehrlinge auf Projekte. Ein anderes Beispiel ist die KV-Revision, die jetzt auch schon umgesetzt wird – selbstgesteuertes Lernen in der Berufsbildung, lernen ohne Fächer, eher mit Coach und eigener Zielsetzung. Ich denke, dass in vielen Branchen und Firmen ein Umdenken stattfindet. Wenn man weiss, dass ein Mensch gesund und zufrieden ist und gerne tut was er tut, dass er schlussendlich leistungsfähiger und diese Arbeitsweise auch nachhaltiger ist.
Ich denke, die machen das jetzt nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit. Natürlich schauen auch sie knallhart auf die Zahlen, würd ich jetzt behaupten. Aber sie realisieren allmählich: wenn uns drei Leute von zehn krank ausfallen, dann nützt das dem Betrieb auch nichts. Sie beginnen zu forschen und sehen wie elementar wichtig es ist, dass der Mensch sich wohl fühlt bei der Arbeit. Wie er Leistung erbringen kann. Und das ist eben nicht per Fliessband- und Druckmethodik.
Würden Sie denn behaupten, dass durch dieses Modell nie einen Leistungsdruck entsteht? Es gibt ja immer trotz allem immer irgendwelche Vorgaben – Zeitvorgaben zum Beispiel.
Also erstmal denke ich, dass die Leute die lieben was sie tun, eine enorme Leistung vollbringen können. Ein Leistungsdruck ist häufig ein eigener, ein selbstgemachter. Wir versuchen in einem solchen Fall herauszufinden, aus was beziehst du deinen Selbstwert. Hat das mit Leistung zu tun? Oder gibt es auch die Sicherheit ich bin wertvoll, gut genug und kann ich aus dieser Position die Leistung erbringen.
Bei den Abgängern gibt es für die Berufswelt verschiedenste Einstiegsmöglichkeiten entsprechend dem Level und dem Tempo. Für uns ist auch nicht entscheidend, ob ein Kind uns mit 15, 16 oder 17 Jahren verlässt. Es ist eine Frage der Reife. Manche sind früher bereit, manche später. Diesen Moment zu finden ist sehr wichtig. Dann sind die Kinder auch konstant leistungsfähig.
Das bemerken wir bei den Zielsetzungen. Diese selbständige Zielsetzung trainieren sie bei uns schon ab Zyklus 2, also ab ca. im 8. Lebensjahr. Das Kind setzt sich ein Ziel für nächste Woche. Das ist sehr schwierig. Setz ich das Ziel zu hoch, zu tief? Schon nur für uns Erwachsene ist das schwierig zu regulieren. Das trainieren sie im kleinen Rahmen. Das wird ausgewertet und angeschaut, an was es gelegen hat, dass ein Ziel nicht erreicht wurde. War die Planung nicht gut genug? War die Verlässlichkeit nicht vorhanden? War das Zeitbudget zu knapp? Wenn du die Strategien der Zielsetzung erlernst, dann beginnst du Freude zu haben ein Ziel zu setzen, das in der Wachstumszone liegt. Also nicht Komfortzone und auch nicht Panikzone, sondern eben diese Mitte, diese Wachstumszone. Wenn das Kind merkt, ich kann mir selber Ziele stecken, die kann ich in diesem Zeitpunkt auch erreichen, dann ist das natürlich auch ein schönes Gefühl. Das trainieren sie bei uns von Klein auf. Diese Strategien der Selbstorganisation wollen wir ja mitgeben. Unser Ziel ist es die personale Kompetenz aufzubauen, genauso die soziale Kompetenz. Sie wissen: wie lerne ich, wie organisiere ich mich, wo kann ich Hilfe holen. So werden sie alles meistern. Bei den 18 Abgängern haben wir damit bislang sehr gute Erfahrungen gemacht. Wir sehen die Kinder in einer aktiven Position. Eher auf der Produktionsseite und nicht auf der Konsumentenseite. Wir legen Wert darauf, dass sie selber die Wege gehen und wir begleiten.
Das braucht einen hohen eigenaktiven Einsatz. Sind Sie tagtäglich motiviert?
Das ist sehr unterschiedlich. Ich liebe auch was ich tu. Aber ich bin auch nicht jeden Tag gleich unterwegs und das ist ja auch das Schöne. Bei jedem Projekt ist am Anfang eine Riesenmotivation und Vision da. Bei jedem Projekt kommt irgendwann der Moment, da sinkt die Motivation. Es geht zum Beispiel darum, ein Gesuch zu schreiben an die Gemeinde und eigentlich will man ja Hühner. Aber man weiss, um dahin zu kommen braucht es diesen Schritt auch. Und dann nimmt man Dinge in Kauf zu tun, die man weniger gerne tut, um dahin zu kommen wo man hin will.
Das ist dann der Moment für uns Pädagogen. Schon bei der Eingabe schauen wir mit dem Kind: hast du den Atem dafür? Wir schauen bei den Kindern, dass sie nicht zu viele Projekte umsetzen. Damit wir diese Kurven gut begleiten können. Unsere Haltung ist, dass wenn wir etwas beginnen, dies auch zu Ende führen. Das ist meist möglich. Es gibt Projekte, die muss man aus finanziellen oder aus anderen übergeordneten Gründen abbrechen. Aber diese Selbstdisziplin, wenn es mal mit der Kurve nach unten geht mit der Motivation, die zu überwinden und das zu schaffen, das ist ein anderes Gipfelgefühl, als wenn alles linear immer schön und gut geht. Das ist uns etwas vom Wichtigsten, diese Selbstdisziplin zu fördern in dem Moment wo es kritisch wird. Als Erwachsener zu sagen: ich bin da, wir gehen zusammen da durch, das schaffen wir. Es nochmal zu visualisieren – diese Hühner sind greifbar nahe. Es ist einer der Hauptkomponenten im Berufsleben, diese Selbstdisziplin. Aber die kann ich nicht erlernen, wenn sie mir abgenommen wird. Es muss der Raum da sein, das zu erleben, auch Misserfolge zu erleben und sich wieder aufzurappeln. Im Film „Bratsch – ein Dorf macht Schule“, sieht man das auch. Es gab Einsprachen für den Hühnerstall. Das war ein grosser Crash für die Kinder. Neun Monate Arbeit und dann hiess es plötzlich: kein Hühnerstall. Dann mussten sie sich wieder aufrappeln, es juristisch genauer anschauen, den Gemeinderat, die Nachbarn einladen. Das zu überwinden und die Hühner kommen dann trotzdem, das ist ein Glücksgefühl in dem Moment.
Beim Thema Leistungsdruck wird der Fokus stets auf die Kinder gelenkt. Aber auch der Pädagoge spielt dabei eine wesentliche Rolle. Inwiefern müsste auch die Position der Lehrperson beachtet werden?
Wir legen Wert darauf, dass wir sehr viel gemeinsame Austauschzeit haben. Wir kommen ungefähr auf 16 Stunden pro Woche in denen wir Pädagogen uns ohne die Kinder besprechen, auswerten und planen. Das ist ein tragfähiges Netz um gesund zu bleiben. Am Mittwoch haben unsere Kinder schulfrei. Wir gehen aber alle nach Bratsch und wir besprechen Themen, die aktuell auf dem Plan sind. Und zwar nicht einfach nur organisatorisch, sondern auch pädagogisch. Machen Videoanalysen und legen Wert darauf, dass jeder Pädagoge auch ein persönliches Wachstum erlebt und auch ein Coaching bekommt. Ich denke, wenn ein Mensch im Wachstumsprozess bleibt ist das auch eine schöne Geschichte. Was wir hören ist, dass es halt lange Tage sind bei uns. (29:50) Ich denke in der Regelschule kann man theoretisch um 8 Uhr zum Unterreicht gehen, um 12 Uhr wieder nach Hause. Dann von 14 Uhr bis 16 Uhr wieder und ist zwischendurch flexibel. Wir haben grundlegend keine flexiblen Zeiten, sondern fixe Arbeitszeiten. Das schützt die, die nicht aufhören würden zu arbeiten. Am Anfang ist das immer eine Umstellung, aber meist schätzen die Leute das nachher sehr. Weil sie wissen: wenn tagsüber etwas ist, irgendein Konflikt, etwas Emotionales, das aufgeräumt werden muss, dann hat es am Abend mindestens eine Stunde Zeitraum um es gemeinsam zu besprechen. Es geht niemand emotional unaufgeräumt nach Hause. Weil es ist das was irgendwann zu nagen beginnt. Gerade auch für Junglehrpersonen ist dann wie klar, am Abend auswerten und ich habe schon eine Idee für morgen, wie ich mit dieser Situation umgehen kann. Dann ist der Erholungseffekt zwischendurch natürlich bedeutend anders.
Dieses Modell braucht – so denke ich – sehr viel Engagement und Herzblut, sicher auch immer wieder mit Grenzüberschreitungen. Was war für Sie der innere Antrieb zum Schritt dieser Schulgründung?
Als Kind stellte ich fest, dass für mich Schule und Leben zwei verschiedene Dinge waren. Ich habe mich nicht sehr wohl gefühlt in diesem Modell. Ich hatte einen sehr hohen Bewegungsdrang, konnte den aber nicht ausleben. Das waren alles Dinge, die mich sehr geprägt haben. Über den Fussball, als Kinderfussballtrainer, habe ich gemerkt, dass ich Kinder sehr gerne begleite. Ich kam so auf die PH-Schiene. Aber schon damals auf der PH sagte ich zu meiner zukünftigen Frau, dass ich mir nicht vorstellen kann, lange mit diesem Modell das im Moment vorherrscht, zu arbeiten. Dass ich da auf die Suche gehen werde, um den Kindern eine andere Kindheit zu ermöglichen. Seither war es eine Forschungsreise für mich. Ich habe wie den Auftrag in mir gespürt, das zu tun. Meine Biografie, die Erfahrungen, die ich machte, die Stärken, die ich mitbekam – das hat wie zusammengepasst. Es war sicher nicht der bequemste Weg, aber ich war naiv genug, ihn zu starten. (lacht).
Ich habe gehört, auch der Kanton Bern ist hellhörig geworden, interessiert sich für Ihr Schulmodell. Vielleicht kommen andere noch hinzu. Was wünschen Sie sich grundsätzlich für das Bildungssystem Schweiz?
Ich hatte immer die Volksschule im Visier. Es war immer mein Wunsch, innerhalb der Volksschule dieses Modell umzusetzen. Das war hier in Bratsch im Wallis leider nicht möglich. Aber es ist tatsächlich so, dass – auch durch den Film denke ich – andere Kantone auch aufmerksam wurden und da unter Umständen Möglichkeiten entstehen so etwas versuchsweise einzubinden. Das ist schon einmal eine wunderbare Geschichte, über die ich mich sehr freue.
Wenn ich mir was wünschen könnte, dann würde ich vor allem eine Haltung wünschen. Wir haben bei uns in Bratsch drei plus eins Wertgrundsätze. Das sind drei Punkte. Der erste ist die Freundlichkeit. Ich denke, die Welt würde schon ganz anders aussehen, wenn man bloss freundlich zueinander ist. Das kann ein „Hallo“ auf der Strasse sein. Oder wenn der Lehrer lächelt und das Kind begrüsst, wenn es zur Schule kommt. Das hat schon eine massive Wirkung. Als wenn er nur am Tisch sitzt, am Korrigieren ist und das Kind gar nicht bemerkt, wenn es reinkommt. Das Kind wird gesehen und erlebt diese Freundlichkeit, vielleicht mit der Begrüssung „schön bist du da“. Das wäre umsetzbar ohne Kurse, ohne Budget.
Der zweite Grundsatzpunkt ist: wir wollen dienen. Unser Dasein soll kein Selbstzweck sein, sondern wir wollen uns investieren. Zum Beispiel in die Leute vom Dorf, mit einem e-Banking Kurs. Das hat man im Film auch gesehen. Oder wir produzieren etwas im Garten, das kommt irgendwo jemandem zu. Es geht immer darum, die Fähigkeit zu gebrauchen um anderen zu dienen. Dazu muss man aber seine Stärken kennen. Damit man weiss, womit man am besten dienen kann.
Das Dritte ist dann, dass wir das auch erfolgreich tun wollen. Wir wollen es auch auf den Boden bringen. Wir wollen auch Resultate aufzeigen können. Wenn ich jetzt diese 18 Abgänger nehme, die wir hatten, schauen wir: waren sie erfolgreich oder nicht? Das ist wie ein Qualitätsmanagement. Wenn sie nicht erfolgreich waren, dann müssten wir etwas ändern. Wir haben den Anspruch an uns, dass sie das in der Wirtschaft und in den weiteren Schulen gut meistern. Das ist bislang so der Fall.
Wir haben drei plus eins Wertgrundsätze. Wenn der Letzte da ist, sind die anderen Drei gar nicht mehr so wichtig. Das ist das Liebende. Wir bringen jeweils das Beispiel von einem Handwerker: bei dir zu Hause ist etwas defekt. Es kommt ein Handwerker vorbei und ich denke, du spürst innerhalb von ein paar Sekunden: ist das jemand, der seine Arbeit mit Liebe macht oder nicht. Wenn du das spürst, dass er seine Arbeit mit Liebe macht, dann kannst du ihn arbeiten lassen. Das wird garantiert gut sein. Wenn du spürst, der macht einfach einen Job und will möglichst bald weg, dann solltest du ihn gut kontrollieren. Weil er höchstwahrscheinlich die Tendenz hat zu pfuschen. Ich glaub, das ist der massgebende Unterschied. Wenn jemand gerne das tut was er tut, dann ändert das – alles!
Das Liebende als ideale Haltung oder als zu erstrebendes Ziel. Das ist ein hoher, sehr schöner und zentral wichtiger Gedanke.
Ja, wenn du weisst wo du gut bist und damit jemandem dienen kannst, dann brauchst du nur noch das Selbstbewusstsein, das auch zu tun. Dann ist die Zukunft für dich wie gesichert. Dann ist deine Aufgabe, Menschen zu helfen, Probleme zu lösen. Du kannst deine Stärken einsetzen. Bei vielen scheitert es, weil sie den Mut nicht haben. Sie spüren zwar, das würde ich gerne tun, das wäre richtig, aber schaffe ich das? Manchmal liegt es daran, dass man die Stärke überhaupt nicht kennt. Das ist einer unsere Aufträge in Bratsch, dass die Kinder ihre Stärken finden. Die finden sie aber nicht indem sie sieben Stunden am Pult sitzen. Weil viele haben die Stärken ausserhalb der Bücher.
Damian Gsponer, ganz herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch und weiterhin viel Erfolg mit Ihrer Schule in Bratsch.
Filmempfehlung: Bratsch – Ein Dorf macht Schule. Ein Film von Norbert Wiedmer.
Bestellmöglichkeit: https://www.filmcoopi.ch/movie/bratsch-ein-dorf-macht-schule
Weitere Informationen über die Schule: https://gd-vs.ch
Dieses Interview realisierte ich für die Firma wellvida.ch