Materialitis akutis vs Seelenheil

Kolumne

Jedesmal wenn ich in meine alte Heimat im Berner Oberland fahre, befällt mich diese unsägliche Begierde. Die Begierde zu Shoppen. Kleider. Schuhe. Irgendwas. Einfach geshoppt muss sein.

Als ob ich kein einziges Kleidungsstück im Schrank hätte. Als ob ich kein einziges paar Schuhe besitzen würde. Als ob meine kleine 2- Zimmer-Wohnung nicht schon so zum Bersten voll wäre und schon so nicht fast aus allen Nähten platzen würde. Der Gang in die nächste Boutique, in den nächsten Schuh- oder Postkarten- oder was-auch-immer-Laden muss sein. Auch wenn es nur ein kleiner Ohr- oder Fussring ist, den ich ergattern oder letztlich auch nur eine Portion Tabulé-Salat mit Brötchen, den ich irgendwo verschnablieren kann.

Gott im Himmel – was ist das eigentlich? Dabei habe ich ALLES. Mehr als genug. Die Schränke bis oben voll, die Hosen eh schon viel zu eng. Von was kommt diese unbändige Lust am kaufen, essen, konsumieren? Am Portemonnaie zu zücken und etwas kitschen ZU MÜSSEN – muss man schon sagen. Es ist wie ein nicht zu unterdrückender Drang, auf der letzten Kurve vor dem Outback. Die letzte Kurve, bevor ich der Shopping-Meile den Rücken kehre und in die Abgeschiedenheit steche. Rauf in die Berge, rauf in die Natur, rauf in die Stille.

Kaum bin ich im Grün der Natur, im Gezwitscher der Vögel, in Hörweite eines Baches, der den Berg runterrauscht bin ich erlöst. Der erstandene Ohr-, Nasen- oder Fingerring bedeutungslos. Überflüssig. Überflüssig, weil das was ich wirklich brauche ist genau das Gegenteil. Das was ich brauche sind nicht die überfüllten Kleiderständer mit Billigmode aus Bangladesh in den Boutiquen der Kleinstadt, in der quäkende Musik aus den Lautsprecher zusätzlich an den Nerven zerrt und mich mit Reizen überflutet. „Der Lärm in den Städten ist heutzutage ein Hexenwerk, das den Menschen mit sich selbst entzweit, ein Gift, das die Erinnerungen auslöscht.“ Der blinde Autor und Professor der französischen Literatur Jacques Lusseyran schreibt mir in seinem Buch „Das Leben beginnt heute“ aus der Seele.

Es ist die Stille der Natur, die Ruhe, die mir nach der letzten Kurve mit voller Kraft entgegenströmt. Die Nerven lockern sich wie wenn die Luft aus einem zum Platzen gefüllten Ballon entweichen würde. Wie beruhigend ist dann die Langsamkeit einer Bergwanderung, bei der ich genügend Zeit habe, die Wiesenblumen zu betrachten, ohne dass mich die musikalische Dauerberieselung davon ablenkt. Da wo ich mich mit Aufmerksamkeit den Schönheiten hinwenden und mich daran erfreuen kann. Wo ich in aller Musse wieder einmal einen Specht am Baum beobachten kann oder eine Elster auf ihrer Diebestour. Und es ist als ob sich, wenn ich mich ihr hinwende, die Natur auch mir entgegen neigen würde. Die Blumen so farbig strahlend, wie wenn sie beim Betrachten eine Extraportion ihres Leuchten hervorbrächten. Ihnen schenke ich meine grösstmögliche Aufmerksamkeit. Und sie mir mein Seelenheil. Nicht das neust erstandene Teil im Shop vor der letzten Kurve.


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